Es war ein diskussionsreicher Abend, ein thematisch bunter, ein intimer: Die arabisch-deutsche Lesung mit dem Journalisten Abderrahmane Ammar begeisterte am 2. November 2016 auf vielen Ebenen. Dabei eröffneten nicht nur der Beitrag von Abderrahmane Ammar über die Aktivistin Nawal El Saadawi und die Geschichte „Anita“ von Kamal Ayadi einen bemerkenswerten Einblick in die arabische Welt.
„Anita“ aus „Wandernde Geister“ von Kamal Ayadi
Kamal Ayadi selbst konnte am Abend der Lesung zwar nicht dabei sein, sandte jedoch über Abderrahmane Ammar seine Grüße aus Ägypten, wo er sich momentan aufhält. Die seinem Erzählband „Wandernde Geister“ entnommene Geschichte „Anita“ zeigt beispielhaft die feine Beobachtungsgabe des aus Tunesien stammenden Autors.
Abderrahmane Ammar las „Anita“ in Hocharabisch und Deutsch vor. Auch wenn man nicht mit der arabischen Sprache vertraut ist, so war die Poesie dahinter doch spürbar. Der Text fließt geradezu über das Publikum und wurde mit ausladenden Gesten, viel Mimik und eindeutiger Betonung unterstrichen.
Vom Publikum wurde die Geschichte mit äußerst großem Amüsement aufgenommen. Kamal Ayadi beherrscht nämlich die Fähigkeit, Alltägliches detailliert wiederzugeben und es zudem so aufzubereiten, dass es nicht nur Wahrheiten enthält, sondern auch Unterhaltungswert hat.
Der Protagonist und zugleich Erzähler ist ein Araber, der mit seiner Frau Anita im Süden Deutschlands lebt. Das tagtägliche Zetern der Frau bringt ihn dazu, seinen Kopf wiederholt gegen die Wand bzw. Hand schlagen zu wollen. Allerdings wird deutlich, dass es nicht wirklich die alltäglichen Streitereien mit seiner Frau sind, die ihn so handeln lassen. Dahinter verbirgt sich viel mehr.
Wir erfahren, dass beide sich in einem arabischen Restaurant kennenlernten und dass es kaum Liebe war, weswegen sie schließlich heirateten. Er suchte Schutz vor der Willkür der Behörden. Sie suchte das Exotische, das Neue, das Fremde. Vielleicht war sie verliebt oder wollte schlicht helfen. Beide finden sich wieder in einem gemeinsamen Schicksal.
Alltagsprobleme werden bei Kamal Ayadi mit Literatur bearbeitet. Dafür beobachtet der Autor seine Umgebung und die Menschen ganz genau und nutzt diese Beobachtungen als Inspiration. Seine Texte sind menschlich, die Protagonisten in ihrer Würde unangetastet. Kamal Ayadi bildet die Realität ab, gespickt mit literarischen Gewürzen.
„Nawal El Saadawi, eine ägyptische Feministin, die die Gesellschaft nackt macht!“ von Abderrahmane Ammar
Abderahmane Ammar stellte zudem seinen journalistischen Text über die Aktivistin Nawal El Saadawi auf Arabisch im Dialekt und Deutsch vor. Dafür interviewte er Hoda Salah, eine deutsch-ägyptische Politikwissenschaftlerin der FU Berlin und Frauenrechtlerin, die u. a. über die Frauenbewegung in der arabischen Welt forscht.
Die studierte Ärztin Nawal El Saadawi (*1931 in Ägypten) ist weit mehr als eine Schriftstellerin, sondern kämpft Zeit ihres Lebens für Menschenrechte, speziell für die Rechte von Frauen. Ihr Kampf richtet sich vorrangig gegen das religiös begründete Privileg der Männer und die damit einhergehende Ablehnung der Frauen.
Die negativen Vorstellungen von der Frau werden über die Erziehung der Kinder vermittelt. Dabei geben nicht nur Männer diese Vorstellungen weiter. Frauen agieren als Komplizen der Unterdrückung.
In ihren Studien zeigt Nawal El Saadawi, dass Religion instrumentalisiert wird und der Islam die gelebten Traditionen tatsächlich nicht vorschreibt. Ihre Interpretation des Islam stellte die ägyptische Gesellschaft nackt dar.
Nawal El Saadawi wurde mehrfach bedroht, verhaftet und musste Ägypten ins Exil verlassen.
Exkurs in die arabische Welt
Der Islamwissenschaftler und Journalist Abderrahmane Ammar stellte sich im zweiten Teil des Abends vielen neugierigen Fragen. Er nahm das Publikum quasi an die Hand und führte es in die arabische Welt ein.
Den Anfang machte die arabische Sprache, genauer die Unterschiede zwischen dem Hocharabischen und den Dialekten. Hocharabisch ist schwer zu erlernen, da es u. a. eine sehr komplizierte Grammatik hat. Im Dialekt ist man freier, da man mit der Sprache spielen kann. Oftmals fließen Elemente anderer Sprachen mit ein, wie z. B. Französisch in Tunesien und Marokko bzw. Englisch im Iran, Ägypten und der Golfregion. Auch das Verständnis der Dialekte ist geographisch bedingt.
In der arabischen Kultur ist Mündlichkeit noch immer wichtig. Politisch schwierige Situationen konnten mithilfe von Geschichten weitergetragen werden: Tierfiguren oder mythologische Figuren wurden als politische Anspielungen genutzt. Der Erzähler weist somit jede Verantwortung von sich und gibt sich als Vermittler der Geschichten: „Es war einmal …“ oder auch „Mir wurde gesagt …“
Reime prägen die arabische Sprache und sind ein Mittel der Erzähler, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf sich zu lenken und sie zu fesseln. Nur wer in diesen Reimen und Mustern erzählen kann, gilt als richtiger Erzähler. Allerdings gibt es heute nur noch wenige Geschichtenerzähler, die auf den Märkten und Plätzen für die Halqa – den Kreis der Zuschauer – Geschichten erzählen. Tipp von Abderrahmane Ammar für alle, die darüber mehr erfahren möchten: Der Dokumentarfilm „Al Halqa – die letzten Erzähler aus Marokko“ von Thomas Ladenburger.
Natürlich wurde auch die Kopftuch-Frage gestellt. Nach Abderrahmane Ammar müsse das Tragen des Kopftuches nicht immer und unbedingt religiös bedingt sein. Oft ist es eher traditionell oder kulturell begründet. Ein Kopftuch signalisiert traditionelle Werte und wird daher oft vielmehr für andere getragen, um nach außen hin ein Zeichen zu setzen. Auf dem Land, wo die Traditionen sehr stark verankert sind, handelt man damit als Teil der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft. In der Anonymität einer Großstadt sei es leichter, sich diesen Traditionen zu entziehen.
Für Abderrahmane Ammar ist Bildung überaus wichtig: Kinder sollen vom Land in die Stadt gehen, sie sollen auf die Schule gehen, ins Gymnasium und zum Studium, sie sollen Erfahrungen sammeln und das Fremde kennen lernen. Gerade die ältere Generation fühlt sich oft bedroht vom Fremden und Neuem. Diese Ängste und Sorgen sind international und entstehen immer dann, wenn kein Wissen vorhanden ist. Jeder sollte Zugang zu Bildung haben und dafür sollten ausreichend Möglichkeiten und Mittel zur Verfügung stehen.
Dialog macht Schule
Aus dieser Überzeugung resultiert auch Abderrahmane Ammars ehrenamtliches Engagement bei dem bundesweit angelegten Mentoringprogramm „Dialog mach Schule“. Das Programm will die Entwicklung der Persönlichkeit fördern sowie politische Bildung und Partizipation für Jugendliche und Schulen zusammenbringen. So werden sozial benachteiligte Schüler, meist aus Einwandererfamilien, direkt in den Schulen im sozialen Brennpunkt erreicht. Angestrebt wird damit die Stärkung des demokratischen Bewusstseins der Schüler und das Aufzeigen von Wegen zur gesellschaftlichen und politischen Teilhabe.
Im Projekt gibt es keine Noten, sondern einen Dialog. Gemeinsam mit den Lehrern erarbeiten die Dialogmoderator*innen Schwerpunkte und Probleme für die mehrjährige Projektarbeit. Mit den Schüler*innen werden Themen besprochen, die sie beschäftigen, Traditionen werden reflektiert, Identitäten selbst gestaltet und alte Denkweisen aufgebrochen. Ein tolles Projekt.
Das war die dritte Lesung der 3. Kiezlesereise
Die dritte Autorenlesung der 3. Kiezlesereise am 2. November 2016 fand im Café & Restaurant Roter Elefant im Rollberg-Kiez statt. Wir danken Franka Kretteck und ihrem Team sehr für die Gastfreundschaft weit nach Ladenschluss.
Ein besonders herzlicher Dank geht an Abderrahmane Ammar, der auf Arabisch und Deutsch aus einem seiner journalistischen Texte vortrug und eine Geschichte aus Kamal Ayadis Erzählband “Wandernde Geister” las. Der Abend in kleiner Runde war gerade den dadurch möglichen Austausch für alle Anwesenden inspirierend und bereichernd.
Ein Text von Yvonne Geister
Weiterführende Links
Fotos zur Lesung
Die Fotos zur Lesung mit Abderrahmane Ammar sind auf unserer Kiezlesereise-Facebookseite, eine Auswahl gibt es hier: